Stille
In der Stadt in der ich wohne, ist es nie still. Von den umliegenden Autobahnen ist Tag und Nacht Hintergrundrauschen zu hören. Es gibt regen Flugverkehr von Passagier-, Fracht- und Militärmaschinen. In Sichtweite meiner Wohnung befindet sich ein Krankenhaus, an dem mehrmals täglich Rettungshubschrauber landen. An etlichen Baustellen wird von früh morgens bis spät am Abend an sechs Tagen in der Woche gehämmert, gesägt, Material geliefert und mit Maschinen konstruiert. Kirchenglocken läuten im Viertelstundentakt. Autos fahren über Kopfsteinpflaster am Haus vorbei. Die Straße ist Schulweg, Weg zum Kindergarten und in der Nacht ziehen häufig Gruppen von Betrunkenen durch‘s Quartier.
Das Hören ist ein Sinn, der sich nicht verschließen lässt. Sämtliche Geräusche, natürlich und unnatürlich, die mich umgeben, sind präsent und werden immer wahrgenommen. Dies geschieht entweder beiläufig oder mit gerichteter Aufmerksamkeit, wenn ein Geräusch heraussticht und dadurch besonders prägnant erscheint. Interessant wird es, wenn sich die Abwesenheit eines zuvor noch da gewesenen Geräuschs im Bewusstsein manifestiert. Dies geschieht nicht immer unmittelbar im Aufhören, sondern ein paar Momente später.
Die Abwesenheit eines Geräuschs bedeutet gewiss nicht, dass da nun auf einmal gar keines mehr zu hören wäre. Trotzdem kann ich sagen, dieses verzögerte Gewahrsein, also die Aufmerksamkeit auf die Abwesenheit von etwas, ist unmittelbar begleitet von einem Gefühl innerer Ruhe. Die Frage ist, was geschieht hier eigentlich?
Achtsam und die Ohren naturgemäß offen sitze ich in der Meditation. Ich konzentriere mich auf meinen Atem und bin umgeben von einer Vielzahl von Klängen und Geräuschen, die ich mehr oder weniger differenziert, aber eben nicht mit großer Aufmerksamkeit (Konzentration/ausgeprägtem Bewusstsein), wahrnehme. Ähnlich, wie bei Gedankenimpulsen oder dem Gefühl, sich bewegen zu müssen, kommt es durchaus vor, dass ein Geräusch meiner Umgebung sich in das Zentrum meiner Aufmerksamkeit schiebt. Streng genommen sollte ich wohl sagen: Ich richte meinen Fokus (unbewusst) auf ein Geräusch in meiner Umgebung. Soll heissen: Ich lenke mich ab vom eigentlich intendierten Punkt der Konzentration, zum Beispiel dem Atem.
Ganz unvermittelt ist da also dieser Klang. Sagen wir, das Schwirren des Sägeblatts einer Kreissäge auf einer der Baustellen in der Nähe. Der Motor der Säge läuft ununterbrochen und ab und zu kreischt sie beim Sägen von Holz. Der Ton ist da. Ich nehme war: Ah, da ist dieser Ton der Säge. Es folgen Zuschreibungen und Gedanken: Laut, unangenehm, warum muss das immer und gerade jetzt sein? Und so geht das wahrscheinlich für eine kleine, mittlere oder lange Weile weiter.
Was passiert dann?
Ich löse mich vom Geräusch und den damit verbundenen Gedanken und verschiebe meinen Fokus erneut. Hin zu meinem Atem mit willentlicher Anstrengung, oder mäandernd zu anderen Gedanken, Gefühlen, … Der Klang der Säge ist weiterhin da, irgendwo im Hintergrund meiner Wahrnehmung. Subjektiv leiser, unbestimmter, bedeutungsloser. Und auf einmal, ohne, dass ich den Moment des seines Verstummens bemerkt hätte, ist er verschwunden und in seiner Abwesenheit werde ich mit gewisser Verwunderung dieser Stille gewahr.
Geräusche sind immer da. Sie entstehen, dauern an und vergehen. Mit der Aufmerksamkeit auf Geräusche verhält es sich genauso. Ich nehme etwas wahr, halte meine Aufmerksamkeit und verlagere meine Wahrnehmung schließlich auf etwas anderes.
Dieser Moment des (zunächst) unbemerkten Verschwindens eines zuvor sehr distinkten Klangs ist ein Indikator für das Entstehen von Konzentration. Konzentration ist auf einen Punkt gerichtete bewusste Wahrnehmung. Fokus im Nahbereich. Ein kleiner Ausschnitt wird nah und deutlich scharf gestellt betrachtbar, während der überwiegende Teil des Bildes sich in Unschärfe verliert.
Die Stille, die ich wahrnehme, ist ein Teil dieser Konzentration, die mir dazu verhilft, die Aufmerksamkeit meiner Sinne zu fokussieren. Die Geräusche sind immer noch da, nicht alle sind im Fokus meines Bewusstseins. Im Moment des unbemerkten Verschwindens eines Klangs ist diese Konzentration so sehr auf etwas anderes gerichtet, dass dieses zuvor als störend empfundene Geräusch zunächst kaum noch bewusst wahrgenommen, sprich nicht mehr beachtet wird und erst in seinem Verschwinden auffällt, dass es überhaupt noch irgendwo da draussen existiert hat.
Tiefe Konzentration und Geistesruhe sind die Stille, die ich in so einem Moment wahrnehme. Ganz gleich, wo ich bin, Geräusche sind immer da. Die Stille, die ich wahrnehme, das ist die Stille in mir selbst.
// Autor: Boris // Stichworte: Reflexion, Achtsamkeit